Das Thermometer ist noch einmal auf Werte von über 30 Grad geklettert. Wer kann, hat sich in klimatisierte Innenräume zurückgezogen oder sucht Abkühlung im Freibad. Mikey hat diese Möglichkeiten nicht. Er ist obdachlos und leidet auf seinem Fahrrad sichtlich unter der Hitze. „Wasser?“, formt er eine Frage mit fast zahnlosem Mund, denn er kann nicht mehr sprechen. Dort, wo einst sein Kehlkopf war, ist nur noch ein großes Loch. „Du möchtest etwas trinken?“, fragt Patricia Krombach. „Warte kurz.“ Aus ihrem Container reicht sie dem kleinen alten Mann mit den kurzgeschorenen grauen Haaren zwei PET-Flaschen. „Möchtest du auch etwas essen?“ Wieder versucht Mikey sich verständlich zu machen, wieder kommt aus seinem Mund nur ein tonloses Krächzen. „Nichts Scharfes“, interpretiert Krombach und Mikey nickt. Sie geht in ihr Lager und kommt mit einem abgepackten Sandwich, Jogurt und etwas Obst zurück. Mikey nickt dankend, steigt auf sein Fahrrad und radelt davon.
Patricia Krombach steht breitbeinig über einem Karton, aus dem sie Kleiderstücke zieht, begutachtet und sortiert. Sie ist komplett schwarz gekleidet, kurze Hosen, Turnschuhe, eine dünne Kapuzenjacke über einem Shirt, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie wirkt jugendlich, fast ein bisschen mädchenhaft. Nur die Selbstgedrehte, die zwischen ihren Fingern brennt, passt nicht ganz dazu. Eine rote Jogginghose mit einem Loch im Bein räumt sie zur Seite. „Die Leute, die Kleidung vorbeibringen, sagen bei so was immer ,Das reicht noch.‘ Nein, tut es nicht!“, erklärt sie bestimmt. „Man muss unterscheiden zwischen obdachlos und wohnungslos. Jemand, der wohnungslos ist, hat noch soziale Kontakte. Das sind Couchhopper, die mal ein paar Tage bei einem Freund unterkommen, dann für ein paar Wochen bei einer Tante wohnen. Diese Menschen wollen nicht, dass man ihnen ansieht, in welchen Verhältnissen sie leben. Denen kann man keine kaputten Hosen andrehen. Ich sage immer: Man soll Kleidung spenden, die man auch selbst noch tragen würde. Das gebietet für mich der Respekt!“ Die 62-Jährige weiß ganz genau, wovon sie spricht. Seit mittlerweile 23 Jahren kümmert sie sich an sieben Tagen in der Woche um Krefelds Obdachlose, sammelt Sachspenden ein, verteilt mit ihrem Fahrrad Brötchen, Brot und Lebensmittel, sucht freiwillige Helfer und organisiert regelmäßige Essensausgaben. Dabei stehen hinter ihr weder eine Organisation oder ein Verein, die ihre Arbeit finanzieren oder unterstützen würden, noch ist sie wohlhabend, im Gegenteil. Patricia Krombach ist Hartz-IV-Empfängerin: Zuerst ging ihr Messebau-Unternehmen pleite, dann beendete ein schwerer Autounfall ihre Anstellung bei einem Zeitungsvertrieb. Im Niedriglohnsektor arbeitete sie danach noch 16 Jahre in Nachtschicht, doch ein Sturz mit dem Fahrrad führte sie in die Arbeitsunfähigkeit. Warum sie sich so engagiert? „Wer soll es denn sonst tun?“, antwortet sie mit einem Blitzen in den Augen.
Patricia wird 1961 als Tochter eines Fernfahrers und einer Kioskbesitzerin geboren und wächst in Oppum auf. „Auf der Kuhleshütte, nur drei Straßen entfernt von der berüchtigten Herbertzstraße“, erinnert sie sich lachend. „Wenn man von der Herbertzstraße kam, wurde man in der Schule immer gefragt: Wohnst du auf der rechten oder auf der linken Seite? Links wurde noch Post ausgetragen, rechts nicht, denn da wohnten die Menschen in Sozialbauwohnungen oder in der Mau-Mau, in garagenähnlichen Baracken mit Wellblechdächern. Arme Menschen und viele, viele Kinder. Einmal bin ich da hingegangen, weil ich wissen wollte, wie die Leute da leben. Ich konnte nicht glauben, dass so etwas möglich war. Ich bin sofort nach Hause gerannt und habe unseren Vorratsschrank ausgeräumt, aber meine Mutter hielt mich auf. Sie sagte: ,Wenn du einem etwas gibst, musst du allen etwas geben.‘ Ich sah ein, dass sie Recht hatte, aber es brach mir das Herz.“ Als sie mehr als 30 Jahre später ihre ehrenamtliche Tätigkeit aufnimmt, ist das vielleicht auch eine Wiedergutmachung: Nicht nur gegenüber den Armen, denen sie damals nicht helfen konnte, sondern auch gegenüber der kleinen Patricia, die dem erschütternden Elend, das nur wenige Straßen entfernt war, hilflos gegenüberstand.
Patricia steht jeden Morgen um acht Uhr auf, dann kümmert sie sich als erstes um den „kleinen Gerd“, einen mittlerweile 88-jährigen Mann, den sie pflegt. „Er ist mir vor 25 Jahren zugelaufen“, scherzt sie. Danach ist „Networking“ angesagt: Sie prüft eingegangene Spendenangebote auf Facebook oder sucht nach freiwilligen Helfern. Ihr Lager hat sie auf dem Fütingsweg, direkt gegenüber eines großen Supermarkts, auf dessen Parkplatz die SUVs rollen. Es ist gut gefüllt mit Kartons und alten Anziehsachen, in mehreren Kühl- und Gefrierschränken lagern Lebensmittel. Nachmittags schwingt sie sich mit ihrer neongelben Rettungsweste auf ihr Fahrrad und fährt zu Ullrich Brot, um die Backwaren einzusammeln, die sie dann im Stadtgebiet verteilt. Zweimal im Monat veranstaltet sie die große Essensausgabe auf dem Vorplatz der Fabrik Heeder, dem Theaterplatz oder hinter dem Bahnhof. „Es gibt immer mindestens zwei Gerichte. Die Menschen sollen bei mir den Luxus genießen, wählen zu können. Denn diese Wahlmöglichkeit haben sie in ihrem Leben nicht mehr. Für sie gilt überall nur: Friss oder stirb!“ Um ihre Arbeit besser organisieren zu können oder sich selbst zu entlasten, bräuchte sie dringend mehr Helfer. Außerdem wäre ein Transporter gut, um samstags die Salate von Bauer Funken abzuholen. Das Handy klingelt, es ist Wenke Peters von der Auszeit auf der Kleinewefersstraße, die sich ankündigt, Essen vorbeizubringen. Zehn Minuten später ist sie da, mit zwei großen Eimern Gulaschsuppe. „Patricia lebt für diese Arbeit“, sagt sie. „Sie hat ein großes Herz.“ Auch WDR, RTL und Stern haben schon über die engagierte Krefelderin berichtet.
Patricia Krombach redet viel und gern, und oft verliert sie den Faden, denn es gibt so viel zu erzählen, so viel, das an ihr nagt, das sie aufregt – und um das sie sich kümmern muss. „Wo waren wir stehengeblieben?“, fragt sie dann. Immer wieder greift sie nach ihrem Telefon, um zu schauen, ob eine Nachricht eingegangen ist. Sie sagt, dass die Arbeit sie glücklich mache, dass es ihr ein gutes Gefühl gebe, zu helfen. Aber da ist auch eine innere Unruhe, eine Getriebenheit spürbar und, ja, auch Angst. Dass sie nicht weiß, wer ihre Arbeit übernimmt, wenn sie einmal nicht mehr kann, beschäftigt sie. Die gesellschaftliche Entwicklung eines mehr und mehr in die Armut rutschenden Mittelstands bereitet ihr Sorgen, die Entscheidungen der Politik oder auch einzelner Verantwortlicher treiben sie zur Verzweiflung. „Schreib‘ da nichts drüber, sonst bekomme ich wieder Ärger“, sagt sie mehr als einmal. Mit ihrem Kampfgeist und ihrer Dickköpfigkeit ist sie weit gekommen, aber an manchen Barrieren rennt sie sich seit Jahren den Kopf ein. Die Oppumerin ist nicht gerade eine Diplomatin, sie trägt das Herz auf der Zunge, sagt, was sie denkt und macht sich damit gewiss nicht nur Freunde. „Ich bin eine Nervensäge“, gesteht sie freimütig und zieht noch einmal an ihrer Selbstgedrehten. Dass ihre Schützlinge den allermeisten Menschen ein Dorn im Auge sind, macht es für sie nicht gerade leichter. Obdachlose haben keine Lobby und Patricia Krombach ist mit ihrem selbstlosen Einsatz für ausgerechnet diese Menschen ein Sonderling. „Kompromisse jederzeit, aber keine faulen!“, fasst sie ihre Haltung prägnant zusammen. Entweder man hilft oder man hilft nicht. So einfach ist das.
Die Idee, ihrem Engagement einen etwas offizielleren Rahmen zu verleihen, es etwa in das Gewand eines Vereins zu kleiden, damit sie Spendenquittungen ausstellen kann, beschäftigt sie schon länger, aber sie fremdelt damit. Vereine sind ihr suspekt, sie verbindet Mauschelei und Klüngel mit ihnen, und Bürokratie ist ihr ein Gräuel. Machen statt reden, ist ihre Devise. Die Arbeit von Organisationen, die in Krefeld nominell ein ähnliches Feld beackern wie sie, sieht sie dann auch kritisch. „Um bei mir etwas zu essen zu bekommen, muss man kein Formular ausfüllen oder Nachweise erbringen“, sagt sie. „Das geht mich alles nichts an. Die Menschen, denen ich helfe, müssen sich oft genug nackig machen. Sie sollen sich nicht auch noch vor mir ausziehen.“
Erneut hält ein Mann mit seinem Fahrrad bei Patricia an, der dritte in knapp zwei Stunden. Er spricht kaum Deutsch, seine Haut ist sonnengegerbt und ledrig. Auch er bekommt ein Wasser und etwas zu essen, bevor er weiterradelt. „Da vorn ist ein Mülleimer, den man aufklappen kann. Da wird er anhalten und reinschauen, ob er etwas findet“, flüstert sie mir zu. Es passiert genau, wie sie es vorausgesagt hat. Wie muss es sein, so zu leben? Angewiesen auf das zu sein, was andere Menschen wegwerfen? Beim Einschlafen nicht zu wissen, wo am nächsten Tag das Essen herkommt? Überall unerwünscht zu sein und sich tagtäglich Vertreibung, Spott oder gar offenem Hass ausgesetzt zu sehen? Zu wissen, dass man so weit unten angekommen ist, dass eine Rückkehr unmöglich ist? „Bei mir bekommt jeder etwas“, sagt Patricia. Wir können viel von ihr lernen.
Wer Patricia helfen möchte, ruft sie am besten direkt an: 0177/3014696. Bitte Name und Telefonnummer hinterlassen!
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Fotos: Luis Nelsen // Grafik: Michael Strogies